Dr. Dirk Tölke, 2022
Wie erleben wir Raum? Wie empfinden wir Natur? Wir sind immer von etwas umgeben, von Form, Licht und Farbe. Der Verstand isoliert Gegenständliches, differenziert und gruppiert. Wir sehen Verhältnisse und Rhythmen. Orientierung erwächst aus der Erfahrung von Konstanten. Das körperliche Empfinden reagiert auf den Umgebungsraum und bildet die Wechselwirkung in Erregungszustände um.
Die Fotografie erfasst Landschafts-/Naturkonstellationen von einem Standpunkt aus. Die freie Malerei hat neben der Option der Nachahmung und der Betonung und Löschung von Bestandteilen des Erfahrenen und Erfassten die Möglichkeit innere und äußere Landschaft in Dialog treten zu lassen.
Claudia Maas fotografiert Landschaftssequenzen als Stellvertretungen für möglichst neutrale Naturgefilde. Allerweltslandschaftsausschnitte ohne bereits eingespielten Reiz, betont dünne, aber formal interessante Strukturkonstellationen werden von ihr ausgewählt, um in ihnen die Lebendigkeit und Bewegtheit natürlicher Prozesse, z.B. von Wind und Gefälle bewegte Gewässer oder Halme zu erleben. Farbige Übermalungen fügen diesen rhythmisch und strukturell betonten Ensembles aus Linien sowohl eine Komponente impulsiver Bearbeitung hinzu, die als Wechselwirkung des Ausdrucks spürbar wird, als auch eine irreale, bisweilen überstrahlte Lichtwirkung. Die hellen Passagen und Bilder weiten sich in fast meditative Gelassenheit, die dunkleren Bereiche verengen sich ins Angespannte.
In diese Untergründe setzt Claudia Maas Ankerpunkte in Form von entschiedener Gegenkraft. Keile, Flächen, flotierende Wellenmuster, geometrische Gestängeformen. Diese Applikationen besänftigen einerseits die Bildgründe durch Form und Farbe. Ihre Ausrichtung verhält sich andererseits diametral zur perspektivischen Bilderfahrung und verzerrt die räumliche Wirkung in den malerisch ergänzten Schichten. Es geht nicht um die Naturdetails oder diese geometrielastigen Ergänzungen als wiederzuerkennende oder deutbare Gegenständlichkeit, sondern um die Beibehaltung eines wachen Zustandes durch Irritation, der der Steigerung der Aufmerksamkeit für eine Empfindungsvisualisierung dient. Die gemalten, farbigen Überlagerungsschichten, in Gegensatz zur Detailtreue der Fotografie gesetzt, halten für die Veränderung aufmerksam, die durch die durchscheinenden oder raumverschiebenden Hinzufügungen erzielt wird. Wie durch eine gefärbte Glasscheibe betrachtet erscheint und wirkt der Untergrund anders, setzt Empfindung frei. Es geht nicht um ein Formspiel, nicht um Verstörung an sich oder die Magie befremdlicher Formen. Dafür nehmen sich die Hinzufügungen in ihrer Fahlheit zu sehr zurück. Man guckt durch sie hindurch auf den Untergrund und nimmt diesen verändert wahr. Empfindungs-/ Wahrnehmungsräume entstehen, die zur Bildsprache von Claudia Maas gehören. In ihren bisherigen und den jetzigen Zyklen und Bildansätzen bleibt Claudia Maas mit ihrem Vokabular konsequent auf der Suche nach adäquat korrespondierenden Formen und Farben zum Empfinden von Körper und Welt.
Raumerfahrungen von vorn und hinten changieren und verweisen auf die Wahrnehmung selber, weil kein Bildinhalt die zerstobenen Landschaftsausschnitte selbst ernsthaft zum Thema macht. Die Malerei zeigt ihre Suggestionskraft, erprobt ein visuelles Vokabular für ein Empfinden von Raum und Wirklichkeit. Jeden Tag wirkt Natur anders. Stabilität ist höchstens ein Teilaspekt der Wirklichkeitserfahrung. Eine Baumgruppe oder Wiese bleibt als Konstellationsgefüge, aber ihr Eindruck auf Betrachtende ändert sich durch Farbe, Licht und psychische Verfasstheit. Scheinbar ähnliche Gegebenheiten lassen uns mit einem reichen Bestand von unterschiedlichen Empfindungen zurück, die unlöschbarer Teil unserer Wirklichkeitserfahrung sind. Claudia Maas macht es sich zur künstlerischen Aufgabe, dafür Aufmerksamkeit zu schaffen und einen Ausdruck zu suchen.