Dirk Tölke 2019
Die jüngsten Arbeiten von Claudia Maas speisen sich aus Überlegungen, die sie seit 1996 bearbeitet. Ihre Zeichnungen und Gemälde umkreisen den menschlichen Körper: seine Empfindungen (Körperzeichnungen 1996-2002), seine Bewegungen (Sport, Tanz, Akrobatik 2012- 13), seine Mimik (Porträts 2014-17), seine Gruppierung (Flüchtlinge in Zäunen 2015-16), seine Segmentierung (Collagen 2017) und nun sein Auftreten in traumnah floatenden Interieurs (2018). Stets sucht Claudia Maas nach adäquaten Bildmitteln, die den Körper nicht als äußerliches Erscheinungsbild, als Kontur oder posierende Haltung wiedergeben, sondern als empfindenden, leiblichen Organismus, der seine innere Verfassung vermittelt. Um von der traditionellen Darstellungs- und Sichtweise wegzukommen, ohne Zeichnung oder Malerei abzulehnen, hat sie verschiedene Techniken erprobt, die die Körper unvollständig lassen ohne klassischer Torso zu werden.
Ausgehend von der surrealistischen Technik der „Ecriture automatique“, die als automatisches Schreiben und Zeichnen die Bewußtseinskontrolle zugunsten der Steuerung durch das Unterbewußtsein ausschalten wollte, begann Claudia Maas sich beim Zeichnen auf die Innenwahrnehmung zu konzentrieren. So wie beim Reden die Wortbildung dem Gedankenstrom folgt, soll die zeichnende Hand beim Erfassen des eigenen Körperempfindens automatisch dem aus der Wahrnehmungsdifferenz gefilterten Empfindungsstrom parallel zur räumlichen Körperausdehnung folgen. Druckbelastung, Wärme, Durchblutung waren Ansätze für die Körperwahrnehmung, etwa, wie sich Sitzen anfühlt oder welche Körperpartien bei bestimmten Bewegungen Relevanz haben. Bei der Konzentration auf das Gefühlte und seiner Übersetzung in ein Bild entstand kein Gleichklang gespiegelter Körperpartien, weil es nicht mehr darum ging, wie ein Körper aussieht, schon gar nicht, wie er proportionsgerecht oder schön wäre. In den Bleistiftzeichnungen von 1996 erleichterte sie sich diese Studien durch Beschränkung auf einzelne Körperbereiche. Nicht alle Körperpartien sind dabei jeweils gleich wichtig und darstellungswürdig. Anspannung und Verspannung werden eher wahrgenommen und dargestellt, als Entspannung. So verlieren sich beim Durchtesten verschiedenster Haltungen und Lagen etwa Beine in der Liegeposition in züngelnd verfranster Formauflösung, statt noch klassisch Bein zu sein. Ausrichtung resultiert hier eben aus der Empfindung, nicht aus organischem Zusammenhang. Um die Gewohnheit erlernter Aktdarstellungen zu hintergehen, begann sie 1997 mit den Fingernägeln „blind“ rückseitig auf Durchschlagpapier zu kratzen, um die auf das Papier durchschlagende Linienführung nicht zu sehen und damit korrigierend beeinflussen zu können. Ergänzend für die intensivere Konzentration auf das Empfundene begann sie beidhändig zu arbeiten, ohne dass in den Ergebnissen die volle Achsensymmetrie entstand. Dafür ergaben sich Überlagerungen und Verdichtungen der Lineaturen, die nicht mit den organischen Beziehungen von Körperpartien identisch sind. Bisweilen muten die Ergebnisse an wie ein von innen geschauter Hohlkörper ohne jedoch wirklich Autopsiebild oder „Körperwelten“-Innenschau zu werden. Die Graphitzeichnungen finden durch Eingriffe mit dem Radierer noch eine künstlerisch selektierende Überarbeitung, denn es geht um Verständnisbildung und Visualisierung, nicht um ein zufälliges Ergebnis oder ein Formspiel.
In der afrikanischen und schamanistischen Kunst findet man kulturell Körperdarstellungen, die Knochen und innere Organe gleichrangig mit der Körperkontur darstellen, sich nicht europäisch auf die Hautoberfläche beschränken. In der Leibphilosophie von Hermann Schmitz (*1928) wird durch Wahrnehmung und Konzentration auf Spüren und Fühlen zu Leiberfahrungen auch ohne Auge und Hand angeregt, die analog zum Tasten eines Bildhauers, Druck-, Wärme- und Schweredifferenzen wahrnehmen. Nicht die Körperreaktionen, die man hat, sondern der empfindende Leib, der man ist, soll in diesem Sinne ganzheitlich wahrgenommen werden. Schmitz ́ anwendungsorientiertes neues phänomenologisches System der Philosophie setzt auch auf die Eichung von Worten an Phänomenen. Im Gegensatz zu Maria Lassnigs Körpererfahrungsbildern, die mit Farbunterschieden metaphorisch umgehen und als Kompromiss den Körper noch als Körperform erfahrbar halten, sollen bei Claudia Maas physische Prozesse im Vordergrund bleiben, die dennoch als Empfindung nicht an den Hautgrenzen Halt machen.
Trotzdem schien die ab 2002 einbezogene Farbe ein Weg, Empfindungskategorien wie Kälte, Wärme, Energie und Druckgefühl ähnlich den Aufnahmen einer Wärmebildkamera zu differenzieren und zugleich der Beliebigkeit von Farben zu entgehen. Daher arbeitete Claudia Maas mit 5-6 Farben als lineares Filzstift-Oszillogramm und studierte in der Selbstbeobachtung einzelne Körperpartien und Haltungen systematisch über angelegte Karteikarten, die vier Angaben aufzeichneten: die Auswahl der Körperzone, die gewählte Haltung, eine Grafik, die die Intensität bestimmter Wahrnehmungen und deren Zeitdauer und Reihenfolge aufzeichnete und eine Sammlung von Worten, die das Wahrgenommene sprachlich übersetzten. Diese „pseudowissenschaftlichen“ graphischen Blätter dienten der Differenzierung, waren aber für Malerei nicht geeignet, weil Hell-Dunkel-Kontraste die Neutralität stören, weil sie Licht oder Räumlichkeit suggerieren und Farbassoziationen stiften. Parallel entstanden Wortlisten zur sprachlichen Differenzierung der Empfindungen. 1998 endete diese als zu analytisch eingeschätzte zeichnerische Phase von wissenschaftlichen Schaubildern nahen Visualisierungsformen und Claudia Maas kehrte zur Malerei mit einem Neuansatz zurück.
In der Sportfotografie entdeckte sie eingefrorene Bewegungsabläufe mit emotional intensiven Momenten, die sie sammelte und in Bilder übersetzte. Ihr fiel der ekstatische Kern mit teils auratischen und religiöser Verzückung nahen himmelnden Blicken auf, die Sport als Ersatzreligion inszenieren und Sportler als Helden, Athleten und Charaktere. Die Fotografien verletzen die Intimität der Sportler, denn Leidenschaft, Anspannung, Ehrgeiz, Wut und Verzweiflung werden mimisch deutlich. Das ist bisweilen peinlich, unschön, aber ehrlich und kommt so fast einer „photographie automatique“ nahe. Dazu kommt eine tänzerische und choreographische Gruppierung und Haltung in eingefrorenen Momenten, besonders in Aufprallbeziehungen, wenn Sportler sich anrempeln und im Schnappschuss in fast intimen Verhältnissen zusammenstoßen. Die Sportlerporträts und Pas de Deux-Situationen des Mannschaftssports von 2012-15 bereinigte sie von Bällen und dem räumlichen Hintergrund und reicherte sie farblich im Stile der religiösen Frührenaissancemalerei an. Fahle, leicht grünliche Hauttöne, Goldhintergründe vertiefen die Beziehung von Körperhaltung und Religion bzw. Starkult. Eine weitere Serie von 2018 isolierte die Haltungen von Duschenden aus ihrem ursprünglichen Kontext und Bewegungszusammenhang. Solche kontextfreien Körperhaltungen passen in kein Wahrnehmungsraster und verführen zur Neudeutung und Empfindungsvermutung.
Mit den vorher gemachten Erfahrungen entwickelt sie bei den Porträts zudem eine Reduktion auf lineare waagerechte und senkrechte Strichlagen, bleibt weiterhin aber visuell nicht am photorealistischen Äußeren und einer klinischen Pixeligkeit, sondern cezannelike an der Empfindungslage interessiert. Die linearen Schraffurverdichtungen dieser Porträts grenzen die Empfindungen ab, verbinden aber eher Innensehen und Außensehen. Zudem erweist sich der Schnappschuss als etwas künstlich Eingefrorenes, das man selber ohne technische Hilfsmittel gar nicht sehen kann. Ohne Anfang und Richtung fehlt der Erfahrung etwas, denn Bewegung ist eine Abfolge von Handlungen und biologische Wahrnehmung und Empfindung braucht Zeiteinheiten. So wie ein einzelnes Auge hilflos wird, wenn es sich nicht bewegen kann, wird auch die Empfindung unrealistisch, wenn wir sie nicht wahrnehmen, einordnen und fixieren können, insbesondere, wenn sie flüchtig ist. (vgl. die beiden von der Künstlerin als treffend ausgewählten Zitate von Gilles Deleuze am Textende.)
In einem weiteren Neuansatz intendierte Claudia Maas nicht mehr das analytische Auseinanderpflücken von Empfindungen, sondern das Benutzen von Körperbildern und – fragmenten, um eine körperliche oder seelische Erfahrung auszudrücken. Allerdings bleibt die aus den ersten Arbeiten abgeleitete Auflösung der Körper bis hin zu zusammenhanglosen Massen wirksam, denn es geht nur um Körperlichkeit, um die Selbstempfindung, in den neuen Arbeiten besonders die Selbstempfindung im Raum. Interieurs zwischen Bühnenbild, surrealer Collage und Traumwelt bieten nun die Plattform für plastische Körpererstreckungen im Modus der Flüchtigkeit, den ihre lasierende Acrylmalerei in vielen flirrend werdenden Schichten erzielt. Die meist nackten, körperlich fleischlichen Figuren sind erotisiert, angespannt, ausgeliefert, tänzerisch leicht schwebend oder in Drehbewegungen miteinander verwoben. Bilder im Bild und Spiegel geben Verweise auf tradierte und private Erinnerungen, auf Ängste und Sehnsüchte. Spiegel, mal nüchtern oder in intimerer Rokokorahmung als Design-Hinweise auf emotionale Temperatur, verweisen auf Traumwelt, Selbstbespiegelung, dunkle Ahnungen und den voyeuristisch lustvollen Betrachterblick. Die Strandsportler, Akrobaten und Tänzer sind darüber an Erinnerungshaftes oder eigene Erlebnisse gekoppelt. Die Zuordnung von Innen und Außen, von Vorstellung und Wirklichkeit wird in Frage gestellt.
Nicht so sehr Raumlogik, als subtile und reduzierte Auswahl von zeichenhaftem Bildvokabular bestimmt die Gemälde, die ganz anders als Francis Bacon nicht zerfleischte, sondern durch Innenschau bestimmte und bisweilen in Auflösung erscheinende Empfindungskörper und Empfindungsobjekte mit Lichtstimmungen kombinieren. Akrobatisch tänzerisches Gebaren löst sich in fiebernde Rottöne auf, Wasser wirkt als kühles Nass. Fahl-ledrige, aber freundliche Farben, an klassische spanische Künstler gemahnend, verströmen mit den Schönes-Wohnen-Szenarien wohlfeile Gediegenheit, Etikette und Prüderie, spielen ironisch auf ingrehafte Boudoir-Szenerien an. Das entblößend Bloßgelegte, das Peinliche, das Anzügliche, das Nackte, die unklare Empfindung muss in ihrer Flüchtigkeit ausgehalten werden, um gängigen Schemata zu entkommen. Eingespieltes Bildrepertoire macht es allerdings leichter, das Empfinden wahrzunehmen. Das Bild, die neuen Bilder von Claudia Maas werden zum Traumraum, zum Denkraum, zum Empfindungsraum. Nicht Schock, Dramatik, Geistesreizung oder kombinatorische Beliebigkeit leitet die bewusste Zusammenstellung des Bildvokabulars, das ohne Bindung an Raum, Zeit, Lokalfarbigkeit und tradierten Zeichenkanon arbeitet. Ein flüchtiger Zustand, undeutlich, beiläufig und doch eindrücklich wie Erinnertes wird spürbar, aber realienhaltig entrückt, von ungreifbarer Materialität. Daher sind auch die Körper, die Duschenden, Tanzenden oder Sporttreibenden in ihren Unschlüssigkeitsmomenten und absichtslosen Gebärden aus ihrem Umfeld befreit, die Haltung aus dem Zusammenhang genommen und als Empfindungsgestalt oder konstruierter Ausdruck zur Wahrnehmungsschulung lesbar gemacht unter der neuen Grunderfahrung: Körper sind nicht nur das, was wir sehen. Sie sind leiblich.
Gilles Deleuze (französischer Philosoph 1925 – 1995) „Das Bewegungs-Bild“, Band Kino 1 schreibt über das Gesicht:
„…Tatsächlich befinden wir uns immer dann vor einem Gesicht mit starkem Ausdrucksgehalt, wenn die Gesichtszüge sich vom Umriss freimachen, auf eigene Rechnung arbeiten und eine autonome, einer Grenze zustrebende oder eine Schwelle überschreitende Serie bilden:…“ (S.126) Und: „…Das Affektbild ist … von Raum-Zeit-Koordinaten, die es an einen bestimmten Zustand binden könnten, abgelöst und löst seinerseits das Gesicht von der Person, zu der es in einem aktualisierten Zustand gehört.“ (S.137)